Heimatgefühle
Tracht und Tradition
Was ist Heimat? Bei der Ausstellung „Sehnsucht nach Heimat“ in Füssen bin ich auf Spurensuche nach dem Gefühl gegangen, das sich hinter Tracht und Tradition, hinter Sepplhut und Lederhosen verbirgt.
Von Judith Beck
Vergiss nie Deine Heimat
wo Deine Wiege stand
Du findest in der Ferne
kein zweites Heimatland
In der dritten Klasse bekam ich ein Poesiealbum, in dem sich alle Mitschüler und Lehrer verewigten. Meine Klassenlehrerin Frau Tulke schrieb mir damals diesen Spruch ins Album. Hat sie recht? Gibt es wirklich nur diese eine Heimat, in der man sich tief verwurzelt und zuhause fühlt? Oder gibt es Herzensorte, an denen man sich vielleicht schon im ersten Moment fühlt, als wäre man immer dort gewesen, als gehöre man dort hin?
Als ich mich auf den Weg nach Füssen mache, denke ich viel darüber nach. Denn das kommende Wochenende wird ganz unter dem Motto „Sehnsucht nach Heimat“ stehen. Es geht um Traditionen, um Brauchtum, im Speziellen um die Trachtenkultur im Füssener Land. Für viele Menschen symbolisiert die Tracht Heimat. Tracht macht Heimat sichtbar. Die Füssener Trachtenvereine, teils weit über 100 Jahre alt, haben sich engagiert, um eine Ausstellung im Museum und Veranstaltungen mit Tanz und Musik auf die Beine zu stellen.
A bunter Hund in Lederhosen
Im Getümmel der Feierlichkeiten treffe ich am Eingang zum Allgäuer Heimatwerk Richard Hartmann. Als Vorsitzender des Gebirgstrachten- und Heimatvereins „D’Neuschwanstoaner Stamm“ steht er im Mittelpunkt der Organisationen und ist mit seiner Geschichte wohl der beste Ansprechpartner zum Thema Heimat. Nicht, weil er immer in Füssen geblieben ist, sondern gerade weil er aus seiner Heimat wegging. In den Achtzigern zog es ihn nach München, in die „große Welt“, wie er sagt, weil sein Lifestyle zu bunt war und er lieber einen kreativen Job als „was Gscheits“ machen wollte. Also baute Richard von 1993 bis 1999 für die Bayerische Staatsoper deren Marketingbüro auf und machte sich später als Eventler selbständig. Ob in Füssen oder München – er ist mit Leib und Seele Trachtler. „Das ist für mich keine Verkleidung, sondern Kulturgut.“
Pumuckl und sein Meister Wagner
Als der Trachtenverein in Füssen vor zehn Jahren quasi vom Aussterben bedroht war, kam Richard zurück und belebt seither mit seiner Veranstaltungs-Expertise das Vereinsleben mit Kursen und Veranstaltungen zum Thema Heimat und Brauchtum. Strickkurse stehen ebenso auf dem Programm wie Klosterarbeiten oder Volkstanz. „Ich stricke auch selbst“, sagt er stolz. Mitten auf der Drehergasse steht er, vor dem Allgäuer Heimatwerk: „Hier liefen bis in die Fünfzigerjahre die Kühe durch die Straßen, Bauernhöfe waren mitten in der Altstadt.“ Im Gebäude des Heimatwerks befand sich ein Wagner. „Ich war wie der Pumuckl, der über die Straße zum Meister Wagner hinüberlief.“ Man spürt, wie sehr Richard mit der Stadt verbunden ist. Selbst wenn er lange weg war, scheint er doch nie den Bezug zu seiner Basis verloren zu haben.
Flucht aus der Heimat
Wo ist denn eigentlich meine Heimat? Ist es wirklich der Ort, wo meine Wiege stand? Findet man wirklich fern der Heimat kein zweites Heimatland? Als ich das erste Mal von zuhause wegging, war es der Liebe wegen. Nicht, um ihr zu folgen. Eher um vor der zerbrochenen davonzulaufen. Nein, ganz ehrlich, das war nur ein willkommener Nebeneffekt, ein Nice-to-have. Denn eigentlich ging ich aus freien Stücken und wildem Herzen weg, um fern der Heimat mein Traumstudium zu studieren. Es ging für mich bis nach Tübingen, 200 Kilometer Entfernung. Yay! Zumindest war es weit genug, um nicht jedes Wochenende zurückzufahren. Es gab tatsächlich Zeiten, da ward ich ein halbes Jahr nicht mehr zuhause gesehen.
Öko in Tübingen und Alegría in Spanien
Als ich dann zum Auslandssemester nach Spanien emigrierte, war ich wirklich WEIT weg. Das tat soooo gut. Und es war sooo schwer, nach dem Studium – relativ unerwartet – nach Hause zurückzukehren. Ich hatte Spanien liebgewonnen: Sonne, Freiheit, Alegría. Und mein Tübingen ebenso, s’akademische Öko-Städtle. Ich fühlte mich wohl, obwohl die Alpen eigentlich viel zu weit weg waren. Die Hügel, Weinberge und der Neckar reichten mir letztlich, um ein glückliches Outdoormädla zu sein. Eine Heimat fern der Heimat zu finden, ist für mich also durchaus nicht unrealistisch, mithin sogar reizvoll. Gefühlt habe ich an vielen Stellen dieser Erde mein Herz gelassen. Im Grunde an jedem Ort, der mir im Gedächtnis geblieben ist, an den ich mit Sehnsucht zurückdenke. Mein Hirn funktioniert offensichtlich vorrangig in Verbindung mit Emotionen. Herz über Kopf.
A gmahde Wiesn wartet nirgendwo
Dennoch: An einem neuen Ort Fuß zu fassen, anzukommen, ist alles andere als einfach. Vor etwa 100 Jahren kamen mit Industrialisierung, Fremdenverkehr und Krieg reihenweise Zuazogene nach Füssen. Kultur, Tradition und Brauchtum sind im Allgäu in meinen Augen ganz wunderbar – aber sicherlich auch gewöhnungsbedürftig. Wohl fast nie erwartet den von weit Hergereisten, Reigschmeckten a gmahde Wiesn: die herzliche Einladung, dabei zu sein und einfach mitzumachen. Der Allgäuer ist ja schon auch stur und eigenbrötlerisch. Aber nicht nur der Allgäuer. Wohin ich auch ging, mit offenen Armen empfangen wurde ich im Grunde nie. Keiner hat je auf mich gewartet. Ich musste mich schon ein bisschen beweisen und drauf einlassen, aufgeschlossen sein. Ich musste mich anpassen, ohne mich selbst zu verlieren. Aber wer vieles hinter sich zurücklässt, macht automatisch Platz für neue Begegnungen und Möglichkeiten. Er wird zum Gestalter und entdeckt Unerwartetes an sich selbst. Als ich von zuhause wegging, wusste ich, was ich nicht mehr wollte und inwieweit ich mich neu erfinden wollte. Diese Erkenntnis ist der erste große Schritt zur Selbstfindung.
Sehnsucht nach Heimat
Dann geht man eines Tages zurück an seinen Ausgangspunkt. Es ist schwierig. Ich habe mich verändert. Da ist keine Sehnsucht nach Heimat, denn ich war glücklich in der nicht mehr so fremden Ferne. Es dauert, wieder zuhause anzukommen, wo die Wiege stand, wo Daheim ist. Die anderen haben sich teilweise so gar nicht verändert und Gespräche sind zäh. Manche Dinge haben sich wiederum doch verändert – ich vermisse sie. Es braucht einen Moment, anzukommen. Manchmal auch mehr als einen Moment. Und irgendwann ist es plötzlich doch da. Das Gefühl von Heimat, das irgendwo tief im Herzen geschlafen hat.
Die Ausstellung „Sehnsucht nach Heimat“ findet statt bis 27. Februar 2022 im Museum der Stadt Füssen (Barockkloster St. Mang). Die ortsansässigen Trachtenvereine nehmen Dich mit auf eine Reise in ihre Historie, in das Brauchtum, die Traditionen und Heimatschätze Füssens. Mit Musik, Geselligkeit und historischen Fiassar Bürgergewändern.
Werbehinweis und Fotos
Diese Medienreise wurde unterstützt von Füssen Tourismus und Marketing. Die Inhalte und meine persönliche Meinung, die ich in diesem Beitrag wiedergebe, wurden dadurch nicht beeinflusst.